Koloniale Sammlungskontexte
Organisation, Ansprechpartner
Leitung: Dr. Thomas Tabery
Telefon: +49 89 28638-2656
tabery@bsb-muenchen.de
Erforschung möglicher kolonialer Sammlungskontexte an der Bayerischen Staatsbibliothek
In Ergänzung ihrer langjährigen Bemühungen im Bereich der NS-Raubgutforschung hat die Bayerische Staatsbibliothek beginnend im Herbst 2021 ihre sammlungsgeschichtliche Aufklärungsarbeit durch ein aus Eigenmitteln finanziertes Vorhaben auf die Bestände der Orient- und Asienabteilung ausgedehnt, in dem erstmals im deutschen Bibliothekswesen außerhalb der Domäne der NS-Raubgutforschung definierte Sammlungsteile umfangreichen Untersuchungen zur Besitz- und Herkunftsgeschichte unterzogen werden, um etwaige koloniale Sammlungskontexte zu identifizieren und dokumentieren. Die Bayerische Staatsbibliothek öffnet sich damit bewusst der in der deutschen Museumslandschaft seit Jahren in Gang befindlichen Aufarbeitung des kolonialen Erbes Deutschlands, überträgt sie von musealen Artefakten der materiellen Kultur auf das von ihr bewahrte schriftliche Kulturgut und stellt sich damit ihrer besonderen Verantwortung als Sachwalterin außereuropäischen Schrifttums.
Untersuchungsgegenstand
Im Fokus des Projekts stehen die Provenienzen verschiedener orientalischer und asiatischer Teilsammlungen, die zum einen seit Beginn des 20. Jahrhunderts im Zuge von Expeditionen oder Erwerbungsreisen, zum anderen als Schenkungen oder Ankäufe auf dem antiquarischen Buchmarkt in die Bayerische Staatsbibliothek gelangten. Aus Zentralasien durch die deutsche Tibet-Expedition von 1938/39 nach München verbracht und in den 1970er Jahren als Eigentum des Freistaats Bayern in den Bestand der Bibliothek überführt, findet die Tibetica-Sammlung des Zoologen Ernst Schäfer (1910 – 1992) ebenso Berücksichtigung wie der Fundus orientalischer Handschriften, der durch den langjährigen Leiter der Erwerbungsabteilung der Bayerischen Staatsbibliothek Emil Gratzl (1877 – 1957) während seiner 1913/14 zu Studienzwecken durchgeführten Orientreise zusammengetragen und 1957 der Bibliothek testamentarisch übereignet wurde.
In diesen beiden Untersuchungskorpora zeigt sich bereits die große Diversität des Vorhabens im Hinblick auf Herkünfte und Aneignungsprozesse: Schäfers fünfköpfige, vom Reichsführer-SS Himmler politisch geförderte Expeditionsmannschaft zeichnete sich zwar durch naturwissenschaftlichen und völkerkundlichen Sachverstand aus, der sich in umfangreichen Sammlungen von mehr als 3 000 Vogelbälgen (Museum für Naturkunde, Berlin) und etwa 2 000 ethnographischen Objekten (Museum Fünf Kontinente, München) niederschlug, sie trug aber aufgrund fehlender philologischer Expertise eine vergleichsweise geringe Anzahl von Druckwerken und Handschriften zusammen, derer sie zumeist willkürlich, teils in Form von Geschenken habhaft wurde. Gratzl hingegen, der als fachkundiger Orientalist über die notwendigen Sprachkenntnisse verfügte, erwarb arabische Handschriften während seiner Aufenthalte in Aleppo und Kairo mit Bedacht und selektiv, wenngleich als Privatperson und in geringer Zahl.
Einen weiteren Schwerpunkt der Untersuchungen bildet die 1928/29 nach China, Japan und Korea durchgeführte Erwerbungsreise des noch im Jahr seiner Rückkehr zum Generaldirektor der Bayerischen Staatsbibliothek ernannten Georg Reismüller (1882 – 1936). Seine Person ist aufgrund ihrer schicksalhaften Verstrickung in die unmittelbaren Auswirkungen der nationalsozialistischen Machtergreifung auf die Bayerische Staatsbibliothek, die letztlich 1935 – genährt von heftigen, aus dem Kollegenkreis geführten Angriffen und persönlichen Intrigen – zu Reismüllers Amtsenthebung führten, verschiedentlich behandelt worden, ohne dass dabei bislang seine neunmonatige Erwerbungsreise, als deren Ergebnis das Fach der chinesischen Bücher (L.sin. = Libri sinici) an der Bayerischen Staatsbibliothek schlagartig einen 150-prozentigen Zuwachs erfuhr und sich um etwa 18 500 Exemplare auf 30 000 Bände vergrößerte, in Zustandekommen, Verlauf und Ergebnis einer genaueren Betrachtung unterzogen wurde.
Der zeitliche Rahmen der untersuchten Teilsammlungen umfasst das 20. Jahrhundert und erstreckt sich vom 1902 auf Vermittlung des Orientalisten Eduard Glaser (1855 – 1908) angekauften Konvolut jemenitischer Handschriften aus der Sammlung des italienischen Reisenden Giuseppe Caprotti (1862 – 1919) bis hin zu den erst seit den 1980er Jahren in den Bestand gelangten Erwerbungen umfangreicher Textkorpora von rund 2 800 Handschriften der südchinesischen Yao-Volksgruppe und mehrerer Hundert altsüdarabischer Minuskelinschriften auf Holzstäbchen in sabäischer Sprache aus der Zeit bis in das sechste nachchristliche Jahrhundert. Durch den Einschluss der beiden Letzteren bringt die Bayerische Staatsbibliothek ihre uneingeschränkte Bereitschaft zum Ausdruck, auch antiquarische Ankäufe jüngeren Datums auf den Prüfstand zu stellen und dergestalt offenzulegen, ob die ermittelbaren Erwerbungskontexte auch nach heutigen Maßstäben einer kritischen Überprüfung standhalten können.