Erik Ruin: Letter from Isolation, Ex. 1/6, sign. Screenprint, Leporello, 2019 (Signatur: 2 L.sel.III 501) | © Erik Ruin

Kunst trifft Buch trifft Bibliothek: Künstlerbücher

Sie gehören in ein seltsames Zwischenreich – die Wenigsten vermuten sie in einer Bibliothek, noch weniger an einer wissenschaftlichen. Und doch beherbergt die Bayerische Staatsbibliothek die wohl größte Künstlerbuchsammlung Deutschlands.

Wer über die Kuratierung einer Künstlerbuchsammlung sprechen will, muss meistens zuerst erklären, was da überhaupt kuratiert wird, und das geht nicht. Ein gewisses Dilemma – aus dem es den Ausweg gibt, Definitionsversuche kurz zu halten, was die meisten Gesprächspartnerinnen und -partner dankbar, die meisten Fachkolleginnen und -kollegen aber angriffslustig macht. Also gut: Künstlerbücher sind keine Bücher über Kunst, sondern selbst Kunstwerke. Eine weitere Möglichkeit, sie in einem Satz zu erklären, wäre: Wenn der oder die Kunstschaffende sagt, es ist ein Künstlerbuch, ist es eins. Übrigens hat fast jeder berühmte Künstler und fast jede berühmte Künstlerin, an den oder die Sie gerade denken, auch Künstlerbücher geschaffen.

Es gibt sie de facto bereits seit Jahrhunderten, in Form aufwendiger Malerbücher oder als Gesamtkunstwerke, die von Kunstschaffenden selbst gedruckt, illustriert, gebunden wurden. Als „Künstlerbücher“ benannt existieren sie seit etwa einem halben Jahrhundert und möchten Kunst oft erschwinglich unter die Leute bringen, sie niederschwellig und im wahrsten Wortsinn „zum Anfassen“ gestalten. Oft konterkarieren sie unsere Vorstellung vom „Buch“. Man nennt sie dann Konzeptbücher. Auch sind sie oft subversiv angelegt, thematisieren gesellschaftliche Missstände, etwa in Form rasch produzierbarer „Zines“:

Während des Arabischen Frühlings 2011 hat der Künstler Ganzeer (im Blog „Kunst zwischen Deckeln”) Berühmtheit erlangt mit regimekritischer Street-Art und Graphzine-artigen („Grafik“ und „Magazin“ mischen sich in diesem Terminus) Künstlerpublikationen, zumeist eilig per Kopierer vervielfältigt. Den persönlichen „Prototyp“ einer dieser Revolutionspublikationen besitzt die Bayerische Staatsbibliothek im Original (4 L.sel.I 5079).

Künstlerbücher sind keine Kunstwerke, die zufällig Buchform angenommen haben. Es gibt sogar den Ansatz, ihr Wesen über die Ausschlussfrage zu definieren, ob sie das, was sie darstellen und transportieren auch in anderer (Kunst-)Form hätten tun können. Ein Künstlerbuch hat ein Buch werden müssen. Das ist wohl der Hauptgrund, weshalb es im „Zwischenreich“ lebt, also zwischen Bibliothek und Museum. Es gibt sie hier wie dort. In der Bibliothek sind sie in der Regel leichter zugänglich, bei uns sind die meisten für alle, gewisse Ausnahmen zumindest für Forschende zugänglich.

Dass die wohl bedeutendste Künstlerbuchsammlung mit der vielleicht längsten Tradition im deutschsprachigen Bereich an der Bayerischen Staatsbibliothek verortet ist, mag überraschen angesichts der wissenschaftlichen Ausrichtung des Hauses. Kunst und Wissenschaft gemeinsam zu denken ist allerdings ihr historisches Fundament, das Bewahren von Kulturgut, gerade auch im bildbezogenen Bereich sogar ein sehr aktueller Schwerpunkt, und so werden die „Libri Selecti“ hier seit jeher nicht nur bewahrt, sondern die Sammlung als eine von wenigen in Deutschland aktiv gepflegt und ausgebaut.

Nur, wie passiert das? Wie kauft man Künstlerbücher? Wenn ich darüber nachdenke, fällt es mir leichter zu sagen, wie es nicht funktioniert. Nicht wie in den meisten anderen Abteilungen, nicht über Buchhändler, nicht über Kontingente, nicht über Listen, nicht über Kataloge (Ausnahme Auktionskataloge). In aller Regel erwerbe ich direkt beim Künstler bzw. der Künstlerin. Oft haben Künstlerbücher keine ISBN. Nicht selten nicht einmal ein Kolophon. Bisweilen sind es Unikate mit Originalgrafik oder Malerei. Oder sie erscheinen in einer am Kopierer erstellten Mini-Auflage, die unter der Hand verkauft wird. Hundert andere Szenarien sind nicht nur denkbar, sondern tägliche Realität, von der Auktion über persönliche Empfehlungen bis hin zur Nutzung sozialer Netzwerke, die sich als überaus nützlich bei der Trüffelsuche entpuppen. Im Grunde kommt nur eine Aneinanderreihung von Anekdoten dem Erwerbungsgeschehen nahe, so etwa die vom vor etwa fünf Jahren in Moskau bestellten Unikatbuch, das bis heute nicht in München eingetroffen ist, weil die Bedingungen der russischen Post für den Versand eines Kunstwerks ebenso häufig wechseln wie der Künstler (vor dem Krieg) versucht hat, es aufzugeben.

Vielleicht ist es einfacher, die Kriterien zu benennen, nach denen angekauft wird? Immerhin, da gibt es einige handfeste, teils sogar nachlesbar im Katalog unserer letzten großen Künstlerbuch-Ausstellung „Showcase“.¹ Wir erwerben eher selten Unikatbücher; der Fokus liegt auf Büchern und Publikationen in kleiner Auflage, oft signiert und nummeriert. Grundsätzlich wird nicht auf Vollständigkeit gesammelt – zum Beispiel innerhalb eines Stils, einer Epoche oder auch des Werks einer Person –, sondern exemplarisch. Das bedeutet leider, dass dann, wenn eine Künstlerin oder ein Künstler bereits in der Sammlung vertreten ist, das vorhandene Budget oft eher für die Erwerbung von Werken anderer Künstlerinnen und Künstler eingesetzt wird, die dann neue, andere Impulse in die Sammlung bringen – zumal grundsätzlich auf internationalem Niveau gesammelt wird. Ausnahmen gibt es, denn auch bei bereits vertretenen Kunstschaffenden können derlei neue Impulse in Form ganz neuer Werkabschnitte auftauchen. Historisch gewachsene Schwerpunkte werden über den Antiquariatshandel ausgebaut (so etwa Bücher des Russischen Futurismus und Konstruktivismus), neue Schwerpunkte gesetzt: Bücher mit den oben genannten gesellschaftskritischen Ansätzen etwa.

Der vielgesichtige US-Künstler Erik Ruin hat mit „Letter from Isolation“ (2 L.sel.III 501) ein nachdenkliches Schlaglicht auf Ulrike Meinhof geworfen, indem er Passagen ihrer Briefe aus der Haft (1972/73) mit eindrucksvollen porträthaften Siebdrucken verbindet und ein Künstlerbuch in Leporelloform schuf, das im Blätternden die Frage weckt, wie Sprache Identität konstruiert. In seinem engen Bezug zur deutschen Gesellschaftsgeschichte ist es erfreulich, dass eines der 6 weltweit existierenden Exemplare in unserer Künstlerbuchsammlung ist (auf YouTube als Gesamtkunstwerk mit Vertonung in Gänze ansehbar).

Auch „Hidden in Plain Sight“ ist in sehr kleiner Auflage erschienen und an der Bayerischen Staatsbibliothek erstmals auch außerhalb der USA einsehbar (4 L.sel.I 5097): Auf kleinem Format thematisiert es jüngst entdeckte private Korrespondenzen zwischen den Großeltern und der Mutter der Künstlerin während des Zweiten Weltkriegs. Als Juden in Leipzig lebend, hatten die Großeltern ihre beiden Kinder 1938 allein in die USA geschickt und überlebten die Shoa selbst nicht. Künstlerbücher wie diese sind persönlich berührend und zugleich Kulturzeugnisse – hier mit Vorwort von Madeleine Albright –, die es aufzuspüren und an öffentlichen Institutionen zu bewahren lohnt.

Im Augenblick werden Künstlerbücher zusammengetragen, die sich mit der Pandemie-Problematik rund um das Coronavirus SARS-CoV-2 beschäftigen. Auch entstehen bereits Künstlerbücher über den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine. So ist etwa das Mappenwerk „Window of Hope“ der ukrainischen Künstlerin Olesya Dzhuraeva neu in der Sammlung. Zu Kriegsbeginn war die Künstlerin in einem Dorf etwas außerhalb Kiews und schuf 6 Holzschnitte aus Brennholz, nur mithilfe einer Axt und eines Küchenmessers. Als Ersatz für Farbe verwendete sie Wasser und Erde. Die 40 existierenden Exemplare waren schnell vergriffen.

Bestandslücken können bei guten Gelegenheiten wie etwa Nachlass-Versteigerungen geschlossen werden, wie es 2018 und 2019 geschah, als zahlreiche Titel aus der Wendezeit bei zwei Auktionen erworben wurden, die etwa DDR-Untergrund-Titel beinhalten. Künstlerbücher erschienen in der DDR nicht selten in Auflagen von 99 Stück, denn da liefen sie unter dem Radar der Zensur … aber das wäre einmal ein ganz eigenes Thema. Vielleicht für das Blog.

Unsere Künstlerbücher (Libri Selecti) haben ein Blog:
https://bookarts.hypotheses.org/

Die Libri Selecti können fast ausnahmslos in den Lesesaal Handschriften und Alte Drucke bestellt werden – nur für die wertvollsten Stücke gelten überwindbare Auflagen. Dass kaum jemand darum weiß, liegt auch daran, dass sie Schattenpflanzen sind: Fast alle sind aus Urheberrechtsgründen nicht abbildbar, auch und gerade nicht hier online. Tipp: Suchen Sie sich Ihre Lieblingsstücke hier heraus (Webseite „Künstlerbücher” mit Zugang zur Ausschnittsuche in den Libri Selecti) und bestellen Sie sich Originalkunstwerke in den Lesesaal der Abteilung Handschriften und Alte Drucke.

Sammlungsflyer

[1] Béatrice Hernad: „That is fantastic – a latin catalogue number! TOO much fun – Die Künstlerbuchsammlung der Bayerischen Staatsbibliothek“. In: Bayerische Staatsbibliothek (Hrsg.): SHOWCASE – Künstlerbücher aus der Sammlung der Bayerischen Staatsbibliothek: Katalog zu der Ausstellung vom 20. September 2017 bis 7. Januar 2018. München, 2017. S. 225-237.

 

Bildnachweis Headerbild: 
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