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„Die Ungeborenen“ – ein zweites Künstlerbuch von Anselm Kiefer an der Bayerischen Staatsbibliothek

Das 2002 entstandene Künstlerbuch, für das Anselm Kiefer Fotografien mit Asche und Blei bearbeitet hat, nahmen die Generaldirektoren der Bayerischen Staatsbibliothek, Dr. Klaus Ceynowa und Dr. Dorothea Sommer, erfreut in Augenschein. „Die Ungeborenen“ sind dabei all jene Kinder, die abgetrieben, die nie gezeugt wurden oder jene, die künftig geboren werden. Die prominente Neuerwerbung gesellt sich zu einem weiteren Libri Selecti des Künstlers: Die großformatige „Euridike“ kam vor fast 30 Jahren in die Künstlerbuchsammlung.

Dr. Klaus Ceynowa und Dr. Dorothea Sommer mit dem Künstlerbuch von Anselm Kiefer | © BSB/Öffentlichkeitsarbeit

Dr. Klaus Ceynowa und Dr. Dorothea Sommer mit dem Künstlerbuch von Anselm Kiefer | © BSB/Öffentlichkeitsarbeit

„Die Ungeborenen“ | COPYRIGHT ANSELM KIEFER. Fotos: BSB/L. Landes

„Die Ungeborenen“ | COPYRIGHT ANSELM KIEFER. Fotos: BSB/L. Landes

„Die Ungeborenen“ | COPYRIGHT ANSELM KIEFER. Fotos: BSB/L. Landes

„Die Ungeborenen“ | COPYRIGHT ANSELM KIEFER. Fotos: BSB/L. Landes

„Ich bin eigentlich ein Meister des Kleinformats“, sagte Anselm Kiefer jüngst im Gespräch mit Ferdinand von Schirach. So sehr diese Selbsteinschätzung überrascht: Die prominente Neuerwerbung für die Künstlerbuchsammlung der Bayerischen Staatsbibliothek scheint sogar in dieser Hinsicht ein typischer Kiefer zu sein. Knapp 20 bedeutungsschwere Originalcollagen, im Wesentlichen Asche und Blei auf Fotografien von rund 30 auf 23 Zentimetern. Das Buch entstand 2002 in 108 Exemplaren.

Die im Wortsinn „zu Grunde” liegenden Fotografien zeigen verschneite Klappstühle in einer schneereichen Winternacht, daran leere Kleidchen hängend. Dazwischen abstrakte, kosmisch wirkende Aufnahmen von Nachthimmel und Schneegestöber. Alles ist mal mehr, mal weniger überzogen von Ascheklecksen und montierten metallenen Kleidern, deren materielle Schwere ihr Leersein eindringlich unterstreicht: Es sind die Kleider der „Ungeborenen”, also jener Kinder, die abgetrieben wurden, aber auch jener Milliarden Existenzen, die im Samen existieren, aber nie gezeugt wurden, ebenso wie aller künftig Geborenen. Mitschwingend immer der wahnhafte Wunsch, ungeboren zu sein, wie ihn der von Kiefer verehrte Paul Celan formulierte. Mitschwingend wohl auch – anders als in anderen Werken Kiefers hier eher implizit – die Assoziation zum Nationalsozialismus, zu jenen Bergen leerer Kleider in Konzentrationslagern, deren Bilder in unser kollektives Gedächtnis gebrannt sind. Es gebe keine unschuldige Landschaft, sagt der Künstler. Dinge haben für ihn grundsätzlich ein Wesen, sind lebendig. Leichtigkeit und Leben sei nur zusammen mit Schwere, Starre, Tod denkbar. So entstehen seine riesigen Flugzeuge aus Blei, tonnenschwere Metallbücher, so entstehen aber eben auch kleine Bücher mit erstarrten Kleidchen.

„Die Ungeborenen“ sind für Kiefer nicht irgendein Sujet, sondern eines, das ihn seit seiner Jugend oft und in unterschiedlichen Formaten beschäftigt hat. Vor sieben Jahren gab es in Paris etwa eine gleichnamige Ausstellung mit Gemälden. Das in der Schweiz erworbene und bislang weltweit in kaum einer öffentlichen Bibliothek vorhandene Buch stellt sich in seiner Assoziationstiefe, die hier nicht einmal schlagwortartig beleuchtet werden kann, selbstbewusst an die Seite der bereits vor fast 30 Jahren in die Sammlung gekommenen großen „Euridike“, eines jener unikalen, großformatigen Bücher, die in Kiefers Schaffen deutlich häufiger anzutreffen sind als Auflagenwerke wie unser Neuzugang. Der überwiegende Teil seines Schaffens widme sich übrigens dem Buch, sagte Kiefer vor einigen Jahren. Willkommen also in unseren Libri Selecti!

Lilian Landes, Kuratorin Sammlung Künstlerbücher
Dieser Text wird in der Ausgabe 1/2020 des Bibliotheksmagazins erscheinen.

Bibliotheksmagazin
Weitere Informationen zur Künstlerbuchsammlung der Bayerischen Staatsbibliothek

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